Ebensolch Rez-E-zine

 16/05

 
 

© 2003 Strohschneider-LaueNon-Fiction

Buch

Bernhard Graf, Astrid B. Müller (Hg.)

Sichtweisen. Zur veränderten Wahrnehmung von Objekten im Museum. Berliner Schriften zur Museumskunde Band 19

VS Verlag für Sozialwissenschaften 2005. Engl./Dt., 192 S. sw Abb.

€ 26,90

ISBN 3 531 14489 8

Rezension

Die rasante technologische Entwicklung der letzten Jahrzehnte hat zu einer bisher noch nie da gewesenen Bilderflut geführt. Kaum ein Medium kommt heute ohne plakative, bunte Abbildungen aus, die Schnitttechnik von Filmen, Videoclips und Werbung wird immer schneller und viele Informationen sind nur mehr Über das Internet erhältlich. Zumindest die Jungen und jene, die im Berufsleben stehen, haben sich an den Umgang mit neuen technischen Produkten und Services gewöhnt, die ältere Generation ist im Begriff ihn zu erlernen. Die Kehrseite der Medaille ist die zunehmende Unfähigkeit sich auf eine Sache, sei es Thema oder Objekt, zu konzentrieren. Daran gewöhnt Information als schnell konsumierbares, anspruchsloses Häppchen präsentiert zu bekommen, erscheint Vielen die intellektuelle Anstrengung, die eigenes reflektierendes Nachdenken erfordert, wenig verlockend. Die Abwesenheit äußerer Stimuli, die für Gedankenarbeit und Kontemplation benötigte Stille, wird zunehmend als Langeweile empfunden.

Diese veränderte Art der Wahrnehmung sowie die Verschiebung zugunsten elektronisch abrufbarer (Kurz-)Informationen und interaktiver Infografiken in der Präsentation und Akquisition von Wissen stellt an Museen und andere Kunst und Kultur vermittelnde Institutionen neue Anforderungen und eröffnet zugleich eine Vielzahl neuer Möglichkeiten Inhalte zu kommunizieren.

Umso bedeutender ist es, einerseits zu erforschen ob und wie sich Seh- und Lerngewohnheiten verändert haben, wie neue Vermittlungsformen darauf reagieren können und welche Inhalte den Museumsbesucher tatsächlich erreichen, andererseits das Wissen Über die bei der Wahrnehmung im Gehirn stattfindenden Vorgänge zu vermehren.

Das im März 2003 vom Institut für Museumskunde und den Staatlichen Museen zu Berlin Ð Preußischer Kulturbesitz veranstaltete Kolloquium "Sichtweisen. Zur veränderten Wahrnehmung von Objekten in Museen" leistete Pionierarbeit, indem es einen interdisziplinären Dialog zum Thema Wahrnehmung ermöglichte. In seinem Rahmen kamen Museumsfachleute, Kunsthistoriker und Mediengestalter ebenso zu Wort wie Vertreter der Hirn- und Wahrnehmungsforschung. Nun liegt die Tagung auch in gedruckter Form vor.

Der erste Themenblock widmet sich der Frage der Beschäftigung mit Wahrnehmungsveränderungen in der kunsthistorischen Theorie und der Reaktion der Museen auf veränderte Rezeptionsgewohnheiten bei der Umsetzung von Inhalten.

Joachim Sauter gliedert in "Neue Medien in Museen und Ausstellungen" die multimedialen Anwendungen in vier "Formate" ("Interaktive Bildschirmanwendungen", "Interaktive Installationen", "Interaktive Environments" und "Interaktive Architektur") und erklärt diese mit Fallbeispielen.

 Eugen Blume erläutert in "Beuys digital" Möglichkeiten und Grenzen mittels neuer Medien dem Museumsbesucher die zum Verständnis der, auf komplexen konzeptionellen Ideen basierenden, Gegenwartskunst notwendige Hintergrundinformation zugänglich zu machen. Für das Werk von J. Beuys wurde dafür ein digitales Medien-Archiv gewählt.

 Bodo Brinkmann analysiert in "Das Kunstwerk als Benutzeroberfläche Ð Beispiele aus der musealen Praxis" CD-ROMs, Multimedia-Kioske in Museen, Internet-Auftritte von Museen und nur in digitaler Form existierende Kunstwerke. Dabei erarbeitet er Grundregeln für die optimale digitale Präsentation von Kunstwerken und ihrer Inhalte.

Margret Stuffmann widmet sich in "Das Kunstmuseum und seine neue Öffentlichkeit Gefahren und Möglichkeiten der Neuen Medien für die gegenwärtige Praxis" der Frage, ob und bis zu welchem Grad neue Technologien die traditionellen Ausstellungs- und Vermittlungsformen darin unterstützen können, den Besucher zu einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Kunstwerk zu bringen. Sie schlägt vor, verstärkt auf die sinnlichen, emotionalen Qualitäten von Kunst zu bauen und neue Präsentations- und Vermittlungsformen in einem interdisziplinären Labor zu erarbeiten.

Der zweite Themenblock ist den Ergebnissen der Wahrnehmungs- und Hirnforschung zur Frage inwiefern sich die Wahrnehmung geändert hat, gewidmet.

Helmut Leder gibt in "Zur Psychologie der Rezeption moderner Kunst" einen historischen Überblick Über die empirische Ästhetik und stellt anschließend aktuelle Forschungsansätze vor. Dabei wird deutlich, dass ästhetisches Empfinden von Vertrautheit gepaart mit kunsthistorischem Grundwissen, welches es erst ermöglicht Bilder zu kategorisieren und zuzuordnen, bestimmt wird.

Rainer Bösel beschäftigt sich in "Aufmerksamkeitslenkung als pädagogische Strategie" aus psychologischer Sicht mit Aufmerksamkeit und ihrer Lenkung sowie den strategischen Hinweisen, die letztendlich zusammen mit Vorwissen einen Lernprozess ermöglichen.

Semir Zeki stellt in "The Art of the Brain" die grundlegenden Funktionsweisen des Sehvorganges im Gehirn vor und untersucht die Beziehung zwischen den im Gehirn nach bestimmten Grundregeln ablaufenden Prozessen und der Funktion sowie Wahrnehmung von Kunst.

Wolf Singer gibt in "Das Bild im Kopf - aus neurobiologischer Perspektive" eine kurze Einführung in die neurobiologischen Grundlagen der Sinne, insbesondere des Sehsinns. Im Zuge dessen zeigt er, dass Wahrnehmung auf komplexe Konstruktionen und durch Vorwissen beeinflusste Interpretationsprozesse beruht.

Wertvolle Denkanstöße liefern jedoch nicht nur die Beiträge selbst, sondern auch die Grußworte und die kommentierte Zusammenfassung der Podiumsdiskussionen.

"Sichtweisen" hält einerseits den Stand der Dinge im Jahre 2003 fest und schafft andererseits in einer schnelllebigen Zeit Grundlagen, die auch 2005 noch Gültigkeit haben. Damit bietet das Buch dem Leser sowohl Basiswissen und Orientierung als auch Lösungsmöglichkeiten für die Bewältigung der Herausforderung neue Wege in der Kommunikation mit dem Museumsbesucher zu beschreiten. Sichtweisen" ist ein idealer Einstieg in einen Themenkreis, der in den kommenden Jahren noch an Brisanz gewinnen wird.

© Ch. Ranseder

© 2003 Strohschneider-Laue Essenz

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