Ebensolch Rez-E-zine

 33+34/07

© 2003 Strohschneider-LaueNon-Fiction

Buch

Hans Ottomeyer, Klaus Albrecht Schröder, Laurie Winters (Hgg.)

Biedermeier - Die Erfindung der Einfachheit

Biedermeier

Hatje Cantz 2006, 440 S., 415 Farbabb.

49,90

ISBN 978 3 7757 1795 3

Rezension

Der als Katalog zur gleichnamigen Ausstellung erschienene Prachtband "Biedermeier - Die Erfindung der Einfachheit" bietet eine facettenreiche Gesamtschau des Kunstschaffens dieser Epoche und räumt auf mit dem Klischee der Bürgerlichkeit des Stils. Dem derzeitigen Stand der Forschung zufolge, war es nicht das aufstrebende Bürgertum allein, das den Geschmack der Zeit prägte. Ganz im Gegenteil. Die wichtigsten Auftraggeber und Trendsetter gehörten dem Adel an. Die von der aristokratisch-höfischen Gesellschaft in der privaten Sphäre gepflegte Schlichtheit fand Anklang im Bildungs- und Besitzbürgertum. Wer über die nötigen Mittel verfügte, schuf sich nach Beendigung der Napoleonischen Kriege im trauten Heim ein hochkultiviertes Umfeld, in dem Bescheidenheit und Schlichtheit das Maß aller Dinge waren. Die Auswahl an hochqualitativen Kunstgegenständen dafür war groß. Das Buch "Biedermeier - Die Erfindung der Einfachheit" ist eine Leistungsschau der angewandten Kunst, deren zeitlos erscheinende Schönheit beim Blättern im reich bebilderten Tafelteil des Katalogs immer wieder staunen lässt. Egal ob es sich um ein mit maigrünem Stoff bezogenes elegantes Ruhebett, zwei frappant an dem Tulip-Chair von Eero Saarinnen erinnernde Fauteuils oder in atemberaubender Weise auf das Äußerste reduziertes Tee-, Kaffee- und Tafelsilber handelt - es ist überraschend, wie modern diese Arbeiten wirken. Kein Wunder, denn das Avantgarde-Design des 21. Jahrhunderts folgt oft einer recht ähnlichen Grundhaltung der Gestaltung.

Die materielle Kultur des Biedermeiers beschränkt sich auf das Wesentliche und ist dennoch einfallsreich. Sie ist gekennzeichnet durch die geometrische Abstraktion und Klarheit der Formen, eine Reduzierung des Oberflächendekors, der bei den Möbeln durch herrliche Furniere ersetzt wird, und eine lebhafte Farbigkeit. Die Funktionalität der Gegenstände ist noch aus heutiger Sicht bestechend.

Die Jahre zwischen 1815 und 1848 waren eine Zeit des Umbruchs, die sowohl neue Möglichkeiten als auch ungeahnte Bedrohungen bereithielt. Materielle Engpässe bei exotischen Holzarten und deren hoher Preis, zwangen die Möbelhersteller zu erfinderischer Genügsamkeit bei der Verwendung von einheimischen Hölzern. Auf die Schönheit des Materials und seine gediegene handwerkliche Verarbeitung wurde großer Wert gelegt. Für Tischler war der Zeichenunterricht an der Akademie oder in Zeichenschulen obligatorisch. Schon begann sich die berufliche Differenzierung von Handwerker und Entwurfszeichner/Designer drohend am Horizont abzuzeichnen. Traditionell organisierte Handwerksbetriebe sahen sich mit der beginnenden industriellen Fertigung konfrontiert. Bahnbrechende wissenschaftliche Erkenntnisse beeinflussten Produktionsmöglichkeiten ebenso wie die Wahrnehmungsstrukturen in der Kunst. Die höfischen Naturalienkabinette öffneten sich dem Publikum und wurden zur Inspirationsquelle für Porzellanmaler und Glashersteller, die edle Steine nachahmten oder Teller mit botanischen Illustrationen zierten.

Die Publikation "Biedermeier - Die Erfindung der Einfachheit" ist eine reiche Informationsquelle sowohl zur Genese des Stils der Einfachheit als auch zu den Besonderheiten der einzelnen Materialgruppen. Die sechs, dem Tafelteil vorangestellten, Essays kreisen um das Schlüsselwort "Einfachheit". In ihrem Mittelpunkt stehen formale und ästhetische Aspekte des Biedermeiers, denen auch die Auswahl der vorgestellten künstlerischen Arbeiten folgt.

Laurie Winters führt in "Die Wiederentdeckung des Biedermeier" als Auftakt in die Rezeptions- und Forschungsgeschichte des Biedermeier ein und legt dar, unter welchem Gesichtspunkt sich die Ausstellung - und damit auch der Katalog - der Epoche nähert.

Hans Ottomeyer charakterisiert in "Die Erfindung der Einfachheit" die Merkmale des Biedermeier in Abgrenzung zu anderen Stilen der Zeit und begibt sich auf die Suche nach den Wurzeln der Ästhetik der Schlichtheit.

Christian Witt-Dörring verfolgt in "Zur Ästhetik des Biedermeiermöbels" die Bildung des Mythos vom bürgerlichen Möbel des Biedermeier, widerlegt ihn und schildert Produktions- und Ausbildungsbedingungen der Tischler.

Laurie A. Stein spürt in "Eine Kultur der Harmonie und Erinnerung" den Wohnträumen von Adel und Bürgertum und deren Wunsch nach einer harmonischen, individualisierten Umgebung nach.

Werner Busch geht in "Einfachheit als Programm - das Biederschöne" der sich in Literatur, Philosophie und Kunst spiegelnden wandelnden Befindlichkeit der Menschen und dem Charakter der Epoche auf den Grund.

Wolfgang Häusler verankert in "Versuch über die Einfachheit" die Überlegungen zur Ästhetik des Biedermeier im zeit- und sozialgeschichtlichen Kontext und umreißt dabei die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen, die letztlich zur Bildung der in der Geisteshaltung des Biedermeier vorherrschenden Werte führte.

Der opulent bebilderte und mit exzellenten Einführungstexten zu den einzelnen Materialgattungen versehene Tafelteil umfasst Korpusmöbel, Tische und Furniere, Sitzmöbel, Tischlerzeichnungen, Zimmerbilder, Farbenlehre und wissenschaftliche Instrumente, Tapeten, Porzellan, Glas, Silber, Metallarbeiten, Mode, Malerei und Zeichnung in Dänemark und Deutschland sowie Malerei und Zeichnung in Österreich.

Abgerundet wird das gediegen gestaltete Buch durch ein Werkverzeichnis und eine Auswahlbibliografie.

Bleibt zum Abschluss nur die Frage offen, warum das Biedermeier gerade jetzt wiederentdeckt wird. Liegt es daran, dass wir selbst in einer Epoche des Umbruchs leben, in der, Angesichts des flotten Ausbaus der totalen Überwachung und schwelender sozialer Probleme, für viele der Rückzug ins Private und die Suche nach einem bescheidenen, individuellen Glück an Attraktivität gewinnt? Zugegeben, darauf eine Antwort zu finden ist nicht die Aufgabe einer Kunstausstellung oder des begleitenden Katalogs. Verwunderlicher ist da schon, dass bewusst auf die Auseinandersetzung mit den augenfälligen Übereinstimmungen zwischen biedermeierzeitlichen Gestaltungskriterien und modernem/zeitgenössischem Design verzichtet wurde. "Biedermeier - Die Erfindung der Einfachheit" gibt sich ganz der Ästhetik und Schönheit der Kunstgegenstände einer vergangenen Epoche hin.

Wer der Einfachheit huldigen will, kann die Ausstellung noch bis 13. Mai 2007 in der Albertina sehen. Danach wird sie ab dem 8. Juni 2007 im Deutschen Historischen Museum und ab dem 15. Oktober 2007 im Musée du Louvre gezeigt.

© Ch. Ranseder 04. Februar 2007

© 2003 Strohschneider-Laue Essenz

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